Wieso eigentlich nicht mal zu Fuß die Alpen überqueren? Unsere Autorin Viktoria Merk hat sich auf die Socken gemacht. Und kam müde, aber glücklich ins Ziel
Am allerschönsten ist es am vierten Tag. Ein klarer Sommermorgen. Hintereinander marschieren wir den steilen Pfad zur Heidelberger Hütte hoch. Kühe grasen, Alpenrosen säumen den Weg. Unterwegs passieren wir die Landesgrenze zwischen Österreich und der Schweiz. Als wir die Hütte erreichen, begrüßt uns ein Murmeltier mit einem Pfiff. Nach unserer Rast steigen wir über karge Hochgebirgswiesen weiter zum Fimbapass hoch. Auf gut 2.600 Metern Höhe verbindet dieser Übergang das Paznaun mit dem Engadin. Bergdohlen krächzten im Wind. Hier oben, mit dem atemberaubenden Blick ins grüne Inntal hinunter, wird mir auf einmal wirklich bewusst, was wir da tun. Was es wirklich bedeutet, zu Fuß die Alpen zu überqueren.
Denn diese fünftägige Alpenüberquerung ist mehr als nur eine Wanderung. Sie ist eine ermutigende Erinnerung daran, wie viele Hindernisse wir im Leben aus eigener Kraft bewältigen können. Wenn wir nur wollen.
Schon die Steinzeitmenschen überquerten die Alpen
Denn natürlich gibt es bequemere Methoden, sich vom Norden des Alpenhauptkamms zu seiner Südseite vorzuarbeiten. Mit dem Auto etwa geht es derart geschmeidig und schnell auf der Brennerautobahn dahin, dass wir meist erst beim ersten Espresso in Bozen merken, im Süden angekommen zu sein. Von solchen Komfortreisen konnten die Menschen in den vergangenen Jahrtausenden, die immer schon über die Alpen hinübermussten, nur träumen: römische Soldaten, Hannibals Heere samt Elefanten, später auch Pilger. Und viel früher die Steinzeitmenschen. Die fünftägige Alpenüberquerung, bei der uns Bergführer Tommy vom österreichischen Kleinwalsertal ins Südtiroler Vinschgau führt, folgt einer Route, wie sie auch die Jäger und Sammler der Prähistorie hätten gehen können: über nicht allzu hohe Pässe und Übergänge. Und auf einsamen Urpfaden, auf denen nur wenige Menschen unterwegs sind.
Gestartet war unsere achtköpfige Freundesgruppe in Mittelberg im Kleinwalsertal. Zwischen vier und fünf Stunden Gehzeit haben wir täglich zu bewältigen, dazu Höhenunterschiede von bis zu 1.000 Metern bergauf und bergab. Ich bin schon oft in den Bergen gewandert, aber noch nie mehrere Tage hintereinander. Genau darin lag für mich die Herausforderung: Würde ich es schaffen, an fünf Tagen das mächtigste Gebirge Europas zu durchqueren?
Auf dem Fimbapass sind meine Beine zwar ein bisschen müde, doch sie haben sich an die Anstrengung des Gehens gewöhnt. Überhaupt hat das lange Gehen überraschende Qualitäten: Man braucht Konzentration dazu. Und je länger man läuft, desto meditativer wird die Bewegung. Noch etwas habe ich gelernt: Auch die schwierigsten Anstiege sind leichter zu bewältigen, wenn ich dem Rhythmus meines Vordermanns folge. Meine Gedanken geraten dann ins Fließen, und alle meine Sinne öffnen sich für die Natur.Doch jetzt geht es erst mal nur bergab, durch das Sinestra-Tal bis ins Hotel nach Vnà, wo wir einen Sundowner genießen. Unser Gepäck ist schon da. Denn anders als die Steinzeitwanderer haben wir unsere Tour mit Gepäcktransport gebucht! Am letzten Tag geht es durch die spektakuläre Uina-Schlucht, wo ich mich fühle wie im Film „Herr der Ringe“, bis zur Sesvennahütte. Italien, wir haben es geschafft! Wir begrüßen die Alpensüdseite mit Cappuccino und echt Südtiroler Buchweizentorte. Eigentlich sehr genussvoll, so eine Alpenüberquerung!
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